25. September 2025
Südafrikanische Geier: Heilung und Massenbefreiung
von Elisabeth Zoja
1 Fressen oder töten?
Löwen, Giraffen und Elefanten. In etwa so gestaltet sich unser Afrika-Bild – egal ob wir eine
Safari-Erfahrung hinter uns haben oder nicht. Wir denken: Löwen töten um zu fressen, doch oft ist
das nicht der Fall. Sie erledigen auch Geparden, Leoparden und Wildhunde, weil diese ihnen bei
der Jagd Konkurrenz machen. Wie wäre es also, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf einen
Fleischfresser richten, der – anstatt oft zu töten ohne zu fressen – meist frisst ohne zu töten? Einen, der die Savanne von Kadaverresten säubert und so die Ausbreitung von Krankheiten verhindert?
Hier ist eine Nachricht deren Protagonisten meist nicht als „schön“, doch zweifellos als unver-zichtbar gelten: die Geier. Eines der größten Geiermassaker in der Geschichte Südafrikas und
deren Befreiung. Ein Team von 9 Tierärzten, die 48 Stunden lang kein Auge zugetan haben. Doch
gehen wir der Reihe nach vor.
2 Flug gegen die Zeit
Um 6:05 Uhr am 6. Mai 2025 erhielt die EWT (Endangered Wildlife Trust) dank eines GPS-
Senders, der an der Pfote eines Geiers befestigt war, einen Alarm: Dieser Geier befindet sich in
Gefahr und möglicherweise ist er nicht der einzige. Er befand sich in der Mahlangeni Section,
einem schwer zugänglichen Gebiet im Herzen des Krüger-Nationalparks. Um 8:20 Uhr traf ein
Team aus zwei EWT-Mitgliedern und sechs Rangern der South African National Parks (SANParks) an der Stelle ein, die man als Tatort bezeichnen könnte. Ein Elefantenkadaver war mit Agrochemikalien beschmiert worden, um die Geier massenhaft zu vergiften.
Wozu überhaupt? Geier liefern weder essbares Fleisch (vor allem wenn sie vergiftet sind) noch
Elfenbein, Hörner oder Felle. Aber ein Wilderer hat verschiedene Gründe, sie auszurotten – zwei
davon hängen mit deren ausgezeichnetes Sehvermögen zusammen: Je nach Subspezies kann ein Geier mittelgroße Objekte in einer Entfernung von durchschnittlich 7 km erkennen. „Objekte” wie ein totes Zebra oder vor allem andere Geier. Wenn also ein Tier stirbt und keine Raubtiere in der Nähe sind, kann es innerhalb von zehn Minuten von hundert Geiern umgeben sein. Für den
Wilderer bedeutet das: Sie können das Tier, das ich in meiner Schlinge gefangen habe, fressen,
bevor ich es mir holen kann.
Das zweite Hauptmotiv für die Tötung ist ihr Wert auf dem Schwarzmarkt: 2.000 südafrikanische Rand (ca. 100 Euro) pro Geierkopf. In verschiedenen schamanischen Traditionen wird davon ausgegangen, dass Geier die Fähigkeit verleihen, die Zukunft vorherzusagen. Bevor wir dies als Aberglauben abtun, versuchen wir zu verstehen, wie es
zu einer solchen Annahme kam. Aufgrund ihres scharfen Sehvermögens entstand eine tödliche Assoziation: Der Geier sieht Dinge, die
andere nicht erblicken, also kann er die Zukunft sehen. Der Zusammenhang mit der Zukunft besteht tatsächlich, scheint aber zu wörtlich
genommen worden zu sein: Geier bewahren unsere Zukunft auf lange Sicht, indem sie uns vor Krankheiten schützen.
Doch kehren wir zum Tatort zurück: Was hat das Rettungsteam vorgefunden? 116 tote Geier (darunter 102 Weißrückengeier, die laut IUCN als vom Aussterben bedroht CR gelten), 7 im
Sterben liegende und weitere 84 vergiftete Geier. Da es sich um eine Massenvergiftung handelte, war es das erste Mal seit 1993, dem
Gründungsjahr des Moholoholo Wildlife Rehabilitation Centers (welches ein Protokoll zur Behandlung von Geiern entwickelt
hat, das in 97% der Fälle funktioniert), dass die Leitung des Krüger-Nationalparks den Einsatz von Hubschraubern genehmigte, um die Geier abzuholen. „Andernfalls hätte die ca. 300 km lange Strecke, die mit Jeeps und teilweise zu Fuß zurückgelegt werden musste, zu viel Zeit gekostet,“ erklärt Martial Rappo, Leiter des Moholoholo-Zentrums.
Die ersten Behandlungen mussten vor Ort beginnen, anschließend wurden die 84
Geier in der Klinik von Moholoholo aufgenommen. Da ein Geier in den ersten Tagen nach der Vergiftung meist alle zwei Stunden behandelt
werden muss, folgten euphemistisch gesprochen intensive Tage. Ein Team von neun Tierärzten (von Wildscapes Veterinary Services und Briner Veterinary Services) und etwa zwanzig Mitgliedern des Moholoholo-Teams, darunter auch Freiwillige, arbeitete in den darauf folgenden 48 Stunden pausenlos.
Daraufhin verlangsamte sich das Tempo allmählich, doch die Gesamtbehandlung dauerte fast zwei Monate. Von den 84 eingelieferten Geiern haben drei nicht überlebt, doch 81 sind vollständig
genesen und wurden im Laufe des Monats Juni freigelassen. Die Freilassung der letzten Gruppe Ende Juni war ein Ereignis für die lokale Bevölkerung, die sich mit Tänzen und Musik versam-melte.
3 Wie geht es diesen Geiern jetzt?
Einer von ihnen macht derzeit Urlaub im Okavango-Delta (Botswana), das er über Angola erreicht
hat, nachdem er 3.896 km zurückgelegt hat. Woher wissen wir das? Dank eines GPS-Senders,
ähnlich dem, der den Alarm ausgelöst hatte. Diese 81 Geier gesellen sich zu den 230 anderen, die in den letzten 5 Jahren in Südafrika behandelt und freigelassen wurden.
Der Einsatz dieser Geräte mag uns zwar „unnatürlich” erscheinen. Doch
abgesehen von ihrer zentralen Rolle müssen wir bedenken, dass sie nicht invasiv sind (sie werden beispielsweise
nicht mit einem Ring an der Pfote befestigt) und dass sie maximal 3-5 % des
Tiergewichts wiegen. Sie laden sich dank einer winzigen Solaranlage und liefern wertvolle Informationen: Neben der genauen
Geolokalisierung des Tiers geben sie Auskunft über seine Bewegungen, seine Körper-position und seine Temperatur,
sodass man erkennen kann, wann der Geier frisst, ruht, in einen Kampf verwickelt ist oder sogar in Lebensgefahr schwebt. Ähnliche Sender werden bei Nashörnern eingesetzt, um sie vor Wilderei zu schützen.
4 Weshalb sind afrikanische Geier gefährdet?
Martial Rappo, der Leiter des Moholoholo-Zentrums erklärt: „Von 11 afrikanischen Subspezies
gelten derzeit 7 als stark gefährdet (EN). Vor allem wegen Sekundärvergiftungen durch Wilderei
sind die afrikanischen Populationen zwischen 2015 und 2025 um durchschnittlich 7% pro Jahr
zurückgegangen. Aus diesem Grund spricht man von einer African vulture crisis.“
Obwohl sie die größte Bedrohung für Geier darstellen, sind Sekundärvergiftungen jedoch nicht
die einzige Ursache für deren unnatürliche Todesfälle. Weiter erklärt Rappo: „Es gibt viele Formen
der illegalen Jagd: Manchmal werden Geier in Schlingenfallen gefangen. Wenn ein Flügel an einer entscheidenden Stelle gebrochen ist, kann die Heilung sehr langsam verlaufen und die
Wiedererlangung der Flugfähigkeit und damit die Freilassung verhindern.“ In diesem Fall behält
Moholoholo sie in seinem Sanctuary, wo sie zwei Aufgaben erfüllen: Sie einerseits dienen als
Grundlage für Führungen mit Bildungsschwerpunkt und andererseits „bilden“ sie die gesunden
jüngeren Artgenossen „aus“, die als Erwachsene freigelassen werden können (im Wesentlichen
lernen letztere, sich bei den Mahlzeiten durchzusetzen). Derzeit gibt es drei junge Weißrücken-geier in Ausbildung.
Doch einige Verletzungen sind so tief, dass sie nicht einmal die Aufnahme in das Sanctuary
ermöglichen: In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli wurde ein Weißrückengeier eingeliefert, der in
einer Schlingenfalle gefunden worden war – er ist nach wenigen Tagen verstorben.
5 Schützen sie wirklich auch uns Menschen?
Dass sie auch Menschen vor Krankheiten schützen, mussten wir auf die harte Tour erfahren, und
zwar nach dem Massensterben von Millionen von Geiern in den neunziger Jahren in Indien. In
denjenigen Gebieten Indiens, in denen zuvor Geier gelebt hatten, nahmen die Sterbefälle zwischen 2000 und 2005 um 4,7% zu (100.000 zusätzliche Tote pro Jahr). Das bedeutet, das es insgesamt eine halbe Million mehr Todesfälle gab als zuvor – höchstwahrscheinlich aufgrund des Verlusts der Aasfresser. Das ergab eine Studie von Anant Sudarshan (University of Warwick) und Eyal Frank
(University of Chicago).
Wenn wir uns die Gefahren der „afrikanischen Wildnis” vorstellen, vergessen wir oft einen
wesentlichen Aspekt. Sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch in seinem reichsten
Land Südafrika, ist es kein Raubtier, das die meisten Todesfälle
verursacht, sondern die „banale“ Mücke: Malaria.
6 Was kann man für Geier tun? Das vulture-restaurant
Die Wilderei abzustellen ist in Südafrika schlicht unmöglich, sie einzudämmen schwierig, denn
viele Parkwächter des Krüger-Nationalparks werden bestochen oder einfach bedroht – was man bei uns als Mafia bezeichnen würde. Was man neben der Versorgung vergifteter Geier für diese
Spezies tun kann, ist die Unterstützung gesunder Individuen. Die von zahlreichen südafrikani-schen Institutionen (darunter Kruger und Moholoholo) praktizierte Methode heißt „vulture restaurant”. Sie ist ganz einfach: Eine Institution bringt die eigenen Fleischreste an einen für Geier erreichbaren Ort und lässt sie ungestört fressen. Man muss dies nur jeden Tag zur gleichen Zeit tun, und sie kommen sogar im Voraus.
Laut Martial Rappo war dies „höchstwahrscheinlich die Ursache für ein bisher
unbekanntes Phänomen für afrikanische Geier: eine zweistufige Aufwertung laut IUCN. Die Kapgeier, die zuvor als „stark gefährdet” (EN)
galten, haben sich so stark vermehrt, dass sie nun als „potentiell gefährdet” (NT) eingestuft werden.“
7 Von der Mähne zur Glatze
Wenn wir uns für den Erhalt der Artenvielfalt interessieren, müssen wir nicht bis Südafrika
fliegen: Es reicht, ein paar Schritte zurückzugehen. Von der Löwenmähne zur Glatze: Denn diese
ermöglicht es den Geiern, in Aas einzudringen, ohne dass das Blut daran kleben bleibt. Ein
Problem, dem Löwen mit ihrem goldenen Fell ausgesetzt sind: Sie lösen es, indem sie sich nach
dem Fressen gegenseitig ablecken. Und schon kommen wir Menschen mit dem Kommentar, dass
sie süß sind, weil sie „kuscheln”. Für unser Bedürfnis nach Zärtlichkeit gibt es wohl passendere
Kontexte als den Bush; während das Bedürfnis der nichtmenschlichen Tiere anderer Art ist: Die
Erhaltung des Lebensraums ist – und derer, die den „Müll entsorgen“.
Weitere Quellen: